Schuldfrage

Ursache und Wirkung
Gemeinhin gibt der Mensch ja für die ihm widerfahrenden Missgeschicke oder „Schicksalsschläge“ gerne anderen Menschen oder bestimmten Umständen die Schuld, anstatt die Schuld und Verantwortung für alles Geschehen bei sich selbst zu suchen, wo sie hingehört.
Ein schönes Beispiel hierzu ist ein Schild, das man oft vor einer ganz bestimmten Bauart von Treppen findet.
Der typische Text auf dem Schild:
Dieser Weg wird bei Schnee und Eisglätte weder geräumt noch bestreut.
Benutzung auf eigene Gefahr!
Seltsamerweise sind das immer extrem gefährliche Treppen, steil und regelrecht in einen Abgrund des Verderbens führend, sollte man hinunterfallen. Ausserdem sind es meist sehr harte und kantige Betontreppen, Knochenbrecher sozusagen.
Wenn nun jemand auf einer solchen Treppe zu Fall kommt, gehen die Schuldzuweisungen los:
Die Treppe ist Schuld, der Bürgermeister, die Gemeinde ist Schuld, Eis und Schnee sind Schuld, der Winter ist Schuld, das böse Schicksal, meine Sterne stehen heute schlecht ... nur ich natürlich bin nicht Schuld im Sinne von verantwortlich! Die Eigenverantwortlichkeit beginnt ja in dem Augenblick, in dem man sich bewusst entscheidet den Fuß auf die Treppe zu setzen, obwohl nur deren Anblick schon ein mulmiges Gefühl im Davorstehenden erzeugt.
Genau betrachtet kann man diese Kausalkette beliebig ausweiten und fortsetzen und kommt letztendlich bei der Entstehung der Welt an (beim Urknall - wer war eigentlich daran Schuld ...?)

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Es ist so wie mit dem Ei und der Henne oder der Henne und dem Ei ...
Die Eindeutigkeit der Schuldfrage ist somit letztendlich eine Frage der Weite des Blicks, des überblickten Ereignishorizonts.
Juristisch gesehen, muss man da natürlich irgendwo eine Grenze ziehen, die durch Gesetze festgelegt ist.
Wenn jemand in meine Wohnung einbricht und mir etwas stiehlt, so hat er eine allgemein anerkannte Regel des Zusammenlebens, ein Gesetz verletzt.
Warum gerade er, gerade mir, gerade an diesem Tag, zu jener Stunde dies oder jenes gestohlen hat - die Frage bleibt eher ausgeblendet.
Den Sinn eines Geschehens kann man durch diese oberflächlich-kausale Betrachtungsweise natürlich nie erkennen.
Es gibt hierzu eine wunderbare arabische Erzählung, die ich hier anführen möchte:
"Der Eremit Omar saß auf seinem Berg und meditierte über den Lauf der Welt.
Da sah er im Tal einen Reiter, der an einer Quelle Rast machte, einen Beutel, den er am Gürtel trug, neben sich auf die Erde legte und niederkniete, um aus der Quelle zu trinken. Er tränkte auch sein Pferd, schwang sich dann in den Sattel und ritt weiter.
Den Beutel am Boden vergaß er. Kurz darauf kam ein anderer Reiter zu der Quelle, trank, sah den Beutel, nahm ihn mit und ritt davon.
Noch etwas später kam ein Holzfäller zur Quelle, legte seine Bürde ab, beugte sich über das Wasser und trank. In diesem Augenblick kam der erste Reiter zurück, um seinen vergessenen Beutel aufzunehmen. Als er ihn nicht fand, stellte er den Holzfäller zur Rede, nannte ihn einen Dieb, zog sein Schwert und tötete ihn.
All das sah Omar, der Eremit, und besann sich. „Wo ist da der Sinn des Geschehens?
Der Dieb entkommt, und das Schicksal ist mit ihm während der unschuldige Holzfäller für den Diebstahl eines anderen büßen muss. Und der Reiter wird zum Mörder, weil er seinen Beutel vergaß. Wo, oh Allah, bleibt da die Gerechtigkeit?"
Aber der Himmel blieb stumm.
Am folgenden Tage zog ein Weiser über das Gebirge, kehrte in Omars Klause ein und aß und trank mit ihm. Omar erzählte ihm was am Vortage geschah und fragte den Weisen, ob er einen Sinn in diesem Geschehen sehe.
Der Weise lächelte und sprach: „Nichts, oh Ungeduldiger, ist ohne Sinn! Alles, was geschieht, wird durch die steuernden Kräfte des Schicksals bestimmt und folgt den Gesetzen der Ordnung und Weisheit." „Davon habe ich nichts gesehen." murrte der Eremit.
„Du sahst nicht tief und weit genug." antwortete der Weise. „Du sahst nur das Ende einer langen Kette von Ereignissen; erblicktest letzte Auswirkungen Dir unbekannten Wirkungsketten. Du erkanntest den Zusammenhang nicht. So wirkte auf Dich sinnlos, was sich in Wahrheit nach inneren Ordnungsgesetzen vollzog. Was Deine Augen sahen, ist nur Schein." „Wenn Du mehr siehst als ich, " entgegnete Omar, „dann sage mir doch, was Du siehst, damit ich es begreife. Du gibst mir damit den Frieden meiner Seele zurück." „Du musst selbst zur Erkenntnis finden." wies ihn der Weise zurück. „Aber da Du ehrlich um den Sinn ringst, will ich Dir die Augen öffnen."
Und er schloss die Augen und verfiel in jenen Zustand tiefer Versenkung, in dem die Erwachten das Verborgene sehen; als wäre das Buch des Schicksals vor ihnen aufgetan. Nach einer Weile öffnete er die Augen, blickte Omar an und sprach:
„Höre und verstehe: Der Reiter, der den Beutel vergaß, war ein Räuber. Er hat den Beutel gestohlen. Doch er sollte sich seiner Beute nicht erfreuen. Der Mann, der den Beutel fand und davon ritt, war des Bestohlenen Sohn, den der Räuber um sein Erbe gebracht hatte. Lange schon verfolgte er des Räubers Spur, ohne ihn einholen zu können. Da schenkte ihm Allahs Gnade das Geld zurück, das seinem Vater gehört." „Aber warum musste der unschuldige Holzfäller sterben?" frage Omar. „Er hat mit dieser Sache doch nichts zu tun." „Nur mit dem Beutel nicht." antwortete der Weise. „Aber sonst gehört er mit in den gleichen Schicksalszusammenhang.
Vor Jahren erschlug er einen Reisenden im Wald. Nie hat ein irdischer Richter davon erfahren. Aber die himmlische Vergeltung traf ihn, als seine Stunde gekommen war. Der Reiter wusste davon freilich nicht. Ihn hetzt jetzt die Stimme seines Gewissens, und das Schicksal lässt ihn nicht entkommen. Jetzt reitet er durch die Berge wie vom Bösen verfolgt. Der Mann aber, der den Beutel aufnahm und den Du für einen Dieb hieltest, hat seinem Vater das Geld gebracht, der seinerseits durch den Schrecken ob des Verlustes für seinen Geiz bestraft wurde. Jetzt freut er sich mit seinem Sohn und nimmt den Wink des Schicksals zum Anlass, sich zu bessern. Er hat nicht lange mehr zu leben. Doch zur Umkehr ist es niemals zu spät."
Da schwieg Omar und schämte sich seiner Unwissenheit. Doch der Weise lächelte gütig, erhob sich, um weiter zu wandern, und sprach zum Abschied: "Lebe wohl, Omar, und übe dich im Erkennen, Gelassen- und Weisewerden. Viel Leid ist in der Welt, doch keines ist ohne Sinn. Diese Welt ist aus Licht und Dunkel gewoben, und das Sichtbare und das Unsichtbare verknüpft sich zum bunten Teppich des Lebens. Voller Schrecken und voller Wunder ist die Welt, doch weise geordnet vom Geist des Lebens. Nichts ist zufällig. Dem Weisen wird alles zur Weisung."
(aus "1001 Nacht")
Ich denke, diese kleine Erzählung sollte verdeutlichen, was ich unter "Sinn des Geschehens" verstehe...
Im Grunde geht man ja bei der oberflächlich-kausalen Betrachtungsweise von einem völlig sinnlosen Geschehen aus, das „zufällig“ (im Sinne von unkalkulierbar) ist. Dies hieße ja in letzter Konsequenz, dass alles Geschehen ohne Sinn und höhere Ordnung ist.
Es ist nicht zu Ende gedacht, wenn man die Schuld einem anonymen Schicksal zuzuschreibt - wer oder was soll das sein?
Es ist Aberglaube, wie der weit verbreitete Glaube, die 13 bringe Unglück.
Wie dem auch sei, humoristisch lässt sich diese Situation sehr gut verwerten, als "Kuriosität" des Alltags und mehr braucht es hier nicht.